Nir’alenar, die Schöne. Das einstige Zentrum der Welt. Die prächtige Metropole, in der die Völker Niel’Anors in Eintracht nebeneinander lebten. Das Symbol des Friedens in einer vom Krieg zerrissenen Welt.
Noch heute wird ihr Verlust betrauert, ihre Schönheit und ihr Fall in melancholischen Liedern besungen. Unerreichbar und von der Welt abgeschnitten ist sie zu einem neuen Symbol geworden. Einer Erinnerung an die Zerstörungswut des Krieges, einer Mahnung, nicht den Zorn der Götter zu wecken. Für manche war ihr Sturz umvermeidlich. Ihre Großartigkeit und Pracht, die Eitelkeit ihrer Bewohner, der Neid jener, die sie nicht besitzen konnten. Es war eine Spirale, die stetig in den Abgrund führen musste und eine Katastrophe förmlich herbei beschwor.
Auf Niel’Anor ist Nir’alenar nun mehr eine Legende. Manch einer, der sie mit eigenen Augen sehen durfte, vermag es noch, von ihren Wundern zu erzählen, doch man glaubt, dass Beleriar der Zerstörung durch die Hand der streitenden Götter anheimgefallen ist. Und wer etwas anderes behauptet oder es besser weiß, wird meist als verrückt abgetan und schweigt lieber über das, was er gesehen haben mag.
Vielleicht liegt eine Genugtuung darin, das Große fallen zu sehen. Priester nutzen die Bilder des Schreckens in ihren Predigten als Warnung gegen den Hochmut und die kurzlebigen Völker verneinen die Existenz Beleriars häufig. Für sie ist die sagenhafte Insel mit ihrer idealisierten Stadt wenig mehr als ein Mythos, eine Geschichte aus einer lange vergangenen Zeit.
Kaum einer glaubt daran, dass Nir’alenar auf dem Meeresboden ruht. Nicht mehr der Mittelpunkt der ganzen Welt, nicht mehr die glanzvolle Erscheinung aus den Tagen ihrer vollen Blüte. Narben sind ihr geblieben und bis heute nicht vollkommen verheilt. Der zerstörte Tempel des Narion erinnert an die Schrecken des Tages, als die Insel von den Fluten des Sternenmeeres verschluckt worden ist. Man hat ihn absichtlich nicht wieder aufgebaut, die zerbrochenen Steine und die geborstene Kuppel ragen im Philosophenviertel noch so in die Höhe wie damals, als Eriadne ihn mit ihrer Macht zerschmettert hat.
Auf dem Marktplatz zeigt ein rostiger, rötlicher Flecken auf dem Stein die Stelle, an der das Schwert des Feuergottes dem Leben von Arion Falkenauge ein Ende gesetzt hat. Es ist sein Blut, das hier vergossen worden ist und das niemand zu entfernen vermocht hat. Die Statue des Helden erhebt sich dahinter und lässt den Blick über die Stadt streifen, die seine Augen nicht mehr zu sehen vermögen und für deren Schutz er gestorben ist.
Ein Turm des Fürstenpalastes weist ein großes Loch auf. Die Terrasse, die sich davor erstreckt, ist von einem gewaltigen Riss gespalten. Es ist die Stelle, an der die Fürstin Laerali Faenor den Tod gefunden hat, während sie ihre Stadt verteidigte. Das Mauerwerk ist an der Stelle geschwärzt, an der ein Feuerstoß von einem der Priester Narions die tapfere Elfenfrau niedergestreckt hat. Man hat das Loch nie verschlossen. Glas versiegelt die Stelle stattdessen und der Turm liegt verlassen dar, sagt man doch, dass Laeralis Geist noch immer darin umhergeht.
Viele solcher Stellen finden sich in der ganzen Stadt. Zerstörte Kunstwerke, Bauwerke, die Schaden davongetragen haben oder zertrümmert worden sind. Sie verleihen Nir’alenar eine Aura von Traurigkeit, die stets spürbar ist. Von Efeu überwucherter Verfall kauert sich neben prachtvolle Bauten, breitet sich neben gepflegten Blumenbeeten und blühenden Bäumen aus. Beide Elemente ergänzen sich, erzählen die Geschichte einer Stadt, die vieles erlebt, vieles gesehen hat, sprechen von Leben und Tod, die untrennbar verbunden sind, von Vergangenheit und Neubeginn. Das Alte steht neben dem neuen, Melancholie vermischt sich mit Optimismus.
Doch dies ist nur ein Teil von Nir’alenar. Die einstige Schönheit ist vielleicht blasser geworden, erloschen ist sie jedoch nicht. Die Einheit aller Völker ist sichtbar geblieben. Die unterschiedlichen Baustile, die man in der Stadt erblickt, erzählen noch immer davon. Grazile, elfische Türme ragen unter der Kuppel empor. Die mächtigen, dunklen Zwergenhallen mit den eingemeißelten Runen erheben sich daneben. Dort stehen verschnörkelte Steinvillen, von Hand der Cath’shyrr erbaut und mit bunten Glasfenstern verziert. An anderer Stelle erhebt sich ein offener, großzügig gebauter und von Säulen gestützter Palast der Syreniae. Nicht weit davon stehen weiße Marmorbauten mit spitzen Dächern, wie sie die Menschen errichtet haben, als Nir’alenar noch jung war.
Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, erkennt viele solcher Gegensätze. Hier ein buntes Haus mit Kuppeldach, das seine Wurzeln in Basharban haben muss. Daneben ein dunkles Gebäude aus Stein, wie man sie in Zarkon baut, auf dem Wasserspeier thronen und bedrohlich jeden mustern, der sich nähert.
Sie bilden eine Einheit trotz aller Gegensätze, sind ein Zeugnis aus einer Zeit, als alle Völker Niel’Anors an diesem Ort aufeinandergetroffen sind, um gemeinsam die größte Stadt zu errichten, die jemals auf dem Angesicht der Welt existiert hat.
Der Dessibar, der ihr das Leben gegeben hat, schlängelt sich von vielen Brücken überspannt zwischen den Bauwerken hindurch. An seinem Ufer, in der Mitte Nir’alenars reckt sich einsam der blaue Glasturm der Eleria Anuriel in den Himmel, der nicht mehr zu sehen ist. Ein Sinnbild dafür, dass Eriadne durch die Augen ihrer Tochter über Beleriar wacht und gleichzeitig ein Synonym für die Einsamkeit einer Frau, die allein für diese Aufgabe lebt.
Sobald das Licht des Tages schwindet und die Abendstunden gekommen sind, streifen die Lichtsänger durch die Straßen. Ihre Stimmen erklingen in jedem Stadtviertel und erwecken das Licht der Zaubermuscheln zum Leben, die die nächtliche Stadt mit ihrem kühlen, bläulichen Schein beleuchten. Die gesungenen Töne öffnen die großen Muscheln, bis ihr Licht mit voller Kraft erstrahlt. Erst wenn der Morgen über Niel’Anor erwacht und die nicht mehr sichtbare Sonne nach Beleriar zurückkehrt, schließen sie sich wieder.
Nir’alenar ist eine lebendige Stadt, noch immer die Metropole geblieben, die ihren Ruhm begründet hat. An den Tagen wimmelt es vor Händlern, die ihre Waren anpreisen und Besuchern, Individuen, die in der Stadt etwas zu erledigen haben oder ihre Wunder sehen möchten. Manche erhoffen sich hier einen Neuanfang, ein glücklicheres Leben als dort, wo sie geboren worden sind, Reichtum oder Ruhm. In den Nächten schläft man selten. Intrigen werden gesponnen, auf Bällen wird getanzt und gefeiert. Wagemutige Männer und Frauen streifen durch die Gassen und üben Gerechtigkeit für ein geschehenes Unrecht. Liebende treffen sich heimlich und Diebe erleichtern die Reichen um ihr Vermögen. Pläne werden geschmiedet, das Spiel mit der Macht erreicht seinen Höhepunkt.
Niemals findet die Stadt der Eriadne Ruhe, niemals schweigt das Leben in ihr. All jenen zum Trotz, die die Schöne, das Juwel der bekannten Welt totsagen möchten.